Freitag, 28. Februar 2014

Erfolgsgeschichte: Slumbewohner werden Bürger von Kamissagoth

Zum Field-Office kommen schon in der Früh die ersten Patienten. Sie holen sich hier ihre Lepra-Medikamente und werden folgeuntersucht. Auch Lepra-Verdachtsfälle werden hier gemeldet und erstuntersucht. Was ich jetzt erst erfahre: Lepra ist unbehandelt hoch ansteckend, auch für mich!

In 50 Jahren hat es Ruth Pfau und ihr Team geschafft die Lepra in Pakistan in den Griff zu bekommen. Immer weniger neue Lepraerkrankungen werden gemeldet. Dennoch gibt es viel zu tun. In vielen Regionen sind ehemalige Leprapatienten noch immer geächtet und aus dem Familienverband verstoßen. Von außen sind sie mit ihren verstümmelten Händen und Füßen und den Zeichnungen im Gesicht sofort erkennbar. Viele können keiner Arbeit mehr nachgehen, sind auf Hilfe im Alltag angewiesen. Das MALC betreibt daher Häuser, in denen ehemalige Leprapatienten versorgt werden und nicht nach dem Spital wieder auf der Straße landen müssen. Dennoch hat sich Ruth Pfau und ihr Team auch nach neuen Betätigungsfeldern umgesehen und in den dunklen kleinen fensterlosen Zimmern vieler Familien reichlich Arbeit gefunden. In Pakistan gibt es viele behinderte Menschen, die vor der Gesellschaft wegsperrt werden. Ich erfahre, dass ein Grund für die hohe Anzahl von Behinderungen durchaus in der üblichen Heirat innerhalb der Familien liegt.

Selbstgespräche


Claudia Viallani mit einer psychisch kranken Patientin
Claudia Villani betreut eine psychisch kranke Patientin
In einem Hinterhof spricht eine Frau mit sich selbst und lacht in sich hinein. Ihr ebenfalls weit über 20 Jahre alter Bruder hingegen sitzt teilnahmsloser am Boden. Die beiden geistig eingeschränkten jungen Menschen leben in ihrer Familie und werden durch das MALC betreut. Eine ordentliche Anamnese, um die Medikamente einzustellen, ist schwierig. Egal was man fragt, die Antwort lautet meistens „Ja“. 

Zwei Familien teilen sich hier zwei Zimmer und einen kleinen Hof mit Stall. Es ist Vormittag und alle sind zu Hause. Arbeit ist hier Mangelware. Mit einem kleinen Hammer zerschlägt einer der Söhne im Hof alte kaputte Steckdosen und sammelt die winzig kleinen Kupferteile in einem zerschlissenen Plastiksack. Der Verkauf des Altmetalls ist seine einzige Chance auf ein paar Rupee für heute. Mehrmals erklären Claudia Villani, Ruth Pfau und eine weitere MALC-Mitarbeiterin die Medikamentengabe, dann geht es weiter zur nächsten Familie.

Weggesperrt


Einer Familie mit vier behinderten Mädchen wird geholfen
Vier behinderte Mädchen im alter von 20 bis 4 Jahre leben auch hier auf engstem Raum. Die Einzimmerwohnung ist über eine eineinhalb Meter breiten Gasse zu erreichen. Auch hier hat das Zimmer kein Fenster, ist alles dunkel und stickig. Obwohl gerade sichtlich frisch aufgewaschen wurde, liegt der beißende Geruch von Urin in der Luft. Das letzt Mal sei es viel, viel schlimmer gewesen, erzählt mir Claudia Villani. Doch seit MALC der Familie eine „Heimhilfe“ für umgerechnet 60 Euro im Monat organisiert habe, kann die Mutter den Alltag besser schaffen und man merke, wie es allen besser gehe. Die Familie stammt aus dem Norden des Landes und musste fliehen, weil die behinderten Kinder und ihre Mutter als Schande für den Klan gesehen wurden. Der Ehemann stand zu seiner Frau und den Kindern und ging mit – ungewöhnlich! Jetzt arbeitet er fast rund um die Uhr als LKW Fahrer, dennoch reicht das Geld nicht, um genügen Essen für alle zu kaufen. 

Als man der Familie die Heimhilfe vor ein paar Wochen anbot, war sie verlegen. Es dauerte eine Weile, bis klar wurde, dass die Familie das Geld nicht für eine Heimhilfe ausgeben wollte, sondern für dringend benötigte Lebensmittel. Schließlich konnte man vom MALC beides sponsern. Jetzt geht es darum den Kindern ab und zu Tageslicht zu ermöglichen. Mit Hilfe eines Rollstuhls sollen kurze Ausfahrten für die Mädchen, die nicht gehen können, möglich werden. Das Team beschließt die Anschaffung eines Rollstuhls vor Ort und Stelle, doch MALC ist eine große Organisation mit genauer Buchführung. So muss zuerst alles den richtigen Verwaltungsweg gehen, braucht mehrere Unterschriften und Genehmigungen der Bereichsleiter. Dann soll einer Ausfahrt für die Kinder aber nichts mehr im Wege stehen, außer vielleicht die schottrigen Gassen und Straßen vor der Tür, mit ihren zahlreichen Löchern, Müllbergen und Gatschpfütze.

Highway to hell


Zurück geht es über den neuen Highway. Und der ist im Vergleich zu allen anderen Straßen im Land wirklich eine Wohltat. Ihn haben aber auch Millionen Flutopfer 2010 benutzt, um nach Karachi zu kommen, zu Fuß und nicht mit dem Auto. Claudia Villani erzählt mir schreckliche Geschichten. Alle waren mit der Situation damals überfordert. Überall schwache und sterbende Menschen. Millionen Flüchtlinge seit Tagen ohne Nahrung und sauberes Wasser. Beim Verteilen der wenigen Hilfsgüter, anbetracht der Menschenmengen, kam es zu heftigen Tumulten. Claudia entdeckte ein fast verdurstetes kleines Kind, zu schwach um noch zu Schlucken. Die einzige Chance auf Rettung, eine Infusion im nahen öffentlichen Spital. Ein Kampf um Minuten beginnt. Doch im staatlichen Spital muss man die Medikamente zuvor an der Apotheke selber kaufen. Das Organisieren von ausreichend Geld und das Anstellen in der Schlage vor der Apotheke waren dann genau die Minuten zu viel. Das Mädchen starb. Situationen, die man sein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf bekommt.

Geächtet am Fluss


Durch Karachi zieht sich der Lyari River. Sein einstmals breites Flussbett wurde in mittlerweile rissige, teilweise eingefallene Betonwände gezwängt, darüber auf Stelzen ein Expressway für Autos gebaut. Das Wasser des Flusses gleicht ist braune Dreckbrühe, die sich stinkend durch die Stadt zieht. Viele Millionen Menschen entsorgen ihren Abfall direkt in den Fluss. Aber auch viele Tausend Menschen leben direkt am Fluss, kochen mit dem Wasser vom Fluss und waschen hier ihre Wäsche. Daneben „weiden“ Kühe auf den vom Wasser langsam verschobenen Müllbergen. Viele Jahre lang gab es hier eine Hindu-Siedlung. Jährlich wurden ihre Karton- und Blechhütten vom Hochwasser weggeschwämmt.  Ruth Pfau und ihr Team kauften schließlich ein Stück Land in Kamissagoth und mit Hilfe von Geldern der Caritas in St. Pölten, konnten dort kleine Häuser gebaut werden.
DIe Situation hat sich gewandelt. Viele
Slumbewohner haben nun eigene kleine Häuser

Projektkoordinatorin dort ist Aqsa Enwea, eine kluge tatkräftige Frau mit viel Mut. Sie erzählt mir von der Überzeugungsarbeit, die sie leisten musste, um die Situation zu ändern. Oftmals hat sie sich mit den Familien getroffen, musste diskutieren, wurde bedroht und beschimpft, gab aber nie auf. Heute führt sie mich stolz durch Kamissagoth. In der Mitte der kleinen Siedlung steht nun eine mehrstöckige Schule. Die kleinen Häuser sind gepflegt, die Höfe und Gassen der ehemaligen Slumfamilien gefegt. Müll findet man hier kaum mehr. Viele ehemalige Flussfamilien haben hier ein neues Leben begonnen und viele sogar Arbeit gefunden. MALC hat hier ein sehr umfassendes Programm gestartet. Medizinische Betreuung, Zugang zu Bildung, Verbesserung der Wohnsituation, Kurse in Hygiene, Familienplanung für die Erwachsenen. 

Aus den geächteten Hindus am Fluss, die Ärmsten von den Armen, wurde eine achtbare Gemeinde, die mir voll Selbstbewusstsein ihre Häuser zeigt. Und Aqsa Enwea, selbst Katholikin, bemüht sich sehr um religiösen Dialog. Mittlerweile gibt es in der Schule auch Muslime und Christen. Die medizinische Anlaufstelle in Kamissagoth und das Nahrungsprogramm wird ebenfalls von allen Religionen gemeinsam genützt. In der Früh beten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ebenfalls verschiedenen Religionen und Konfessionen angehören gemeinsam. Aus jeder Religion wird ein heiliger Text vorgelesen. Dann geht es an die Arbeit für die Menschen in Kamissagoth.


Erster Teil: Bei Ruth Pfau in Pakistan

Zweiter Teil: Pünktlichkeit und deutscher Humor in Pakistan
Dritter Teil: Erfolgsgeschichte: Slumbewohner werden Bürger von Kamissagoth

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