Freitag, 28. Februar 2014

Erfolgsgeschichte: Slumbewohner werden Bürger von Kamissagoth

Zum Field-Office kommen schon in der Früh die ersten Patienten. Sie holen sich hier ihre Lepra-Medikamente und werden folgeuntersucht. Auch Lepra-Verdachtsfälle werden hier gemeldet und erstuntersucht. Was ich jetzt erst erfahre: Lepra ist unbehandelt hoch ansteckend, auch für mich!

In 50 Jahren hat es Ruth Pfau und ihr Team geschafft die Lepra in Pakistan in den Griff zu bekommen. Immer weniger neue Lepraerkrankungen werden gemeldet. Dennoch gibt es viel zu tun. In vielen Regionen sind ehemalige Leprapatienten noch immer geächtet und aus dem Familienverband verstoßen. Von außen sind sie mit ihren verstümmelten Händen und Füßen und den Zeichnungen im Gesicht sofort erkennbar. Viele können keiner Arbeit mehr nachgehen, sind auf Hilfe im Alltag angewiesen. Das MALC betreibt daher Häuser, in denen ehemalige Leprapatienten versorgt werden und nicht nach dem Spital wieder auf der Straße landen müssen. Dennoch hat sich Ruth Pfau und ihr Team auch nach neuen Betätigungsfeldern umgesehen und in den dunklen kleinen fensterlosen Zimmern vieler Familien reichlich Arbeit gefunden. In Pakistan gibt es viele behinderte Menschen, die vor der Gesellschaft wegsperrt werden. Ich erfahre, dass ein Grund für die hohe Anzahl von Behinderungen durchaus in der üblichen Heirat innerhalb der Familien liegt.

Selbstgespräche


Claudia Viallani mit einer psychisch kranken Patientin
Claudia Villani betreut eine psychisch kranke Patientin
In einem Hinterhof spricht eine Frau mit sich selbst und lacht in sich hinein. Ihr ebenfalls weit über 20 Jahre alter Bruder hingegen sitzt teilnahmsloser am Boden. Die beiden geistig eingeschränkten jungen Menschen leben in ihrer Familie und werden durch das MALC betreut. Eine ordentliche Anamnese, um die Medikamente einzustellen, ist schwierig. Egal was man fragt, die Antwort lautet meistens „Ja“. 

Zwei Familien teilen sich hier zwei Zimmer und einen kleinen Hof mit Stall. Es ist Vormittag und alle sind zu Hause. Arbeit ist hier Mangelware. Mit einem kleinen Hammer zerschlägt einer der Söhne im Hof alte kaputte Steckdosen und sammelt die winzig kleinen Kupferteile in einem zerschlissenen Plastiksack. Der Verkauf des Altmetalls ist seine einzige Chance auf ein paar Rupee für heute. Mehrmals erklären Claudia Villani, Ruth Pfau und eine weitere MALC-Mitarbeiterin die Medikamentengabe, dann geht es weiter zur nächsten Familie.

Weggesperrt


Einer Familie mit vier behinderten Mädchen wird geholfen
Vier behinderte Mädchen im alter von 20 bis 4 Jahre leben auch hier auf engstem Raum. Die Einzimmerwohnung ist über eine eineinhalb Meter breiten Gasse zu erreichen. Auch hier hat das Zimmer kein Fenster, ist alles dunkel und stickig. Obwohl gerade sichtlich frisch aufgewaschen wurde, liegt der beißende Geruch von Urin in der Luft. Das letzt Mal sei es viel, viel schlimmer gewesen, erzählt mir Claudia Villani. Doch seit MALC der Familie eine „Heimhilfe“ für umgerechnet 60 Euro im Monat organisiert habe, kann die Mutter den Alltag besser schaffen und man merke, wie es allen besser gehe. Die Familie stammt aus dem Norden des Landes und musste fliehen, weil die behinderten Kinder und ihre Mutter als Schande für den Klan gesehen wurden. Der Ehemann stand zu seiner Frau und den Kindern und ging mit – ungewöhnlich! Jetzt arbeitet er fast rund um die Uhr als LKW Fahrer, dennoch reicht das Geld nicht, um genügen Essen für alle zu kaufen. 

Als man der Familie die Heimhilfe vor ein paar Wochen anbot, war sie verlegen. Es dauerte eine Weile, bis klar wurde, dass die Familie das Geld nicht für eine Heimhilfe ausgeben wollte, sondern für dringend benötigte Lebensmittel. Schließlich konnte man vom MALC beides sponsern. Jetzt geht es darum den Kindern ab und zu Tageslicht zu ermöglichen. Mit Hilfe eines Rollstuhls sollen kurze Ausfahrten für die Mädchen, die nicht gehen können, möglich werden. Das Team beschließt die Anschaffung eines Rollstuhls vor Ort und Stelle, doch MALC ist eine große Organisation mit genauer Buchführung. So muss zuerst alles den richtigen Verwaltungsweg gehen, braucht mehrere Unterschriften und Genehmigungen der Bereichsleiter. Dann soll einer Ausfahrt für die Kinder aber nichts mehr im Wege stehen, außer vielleicht die schottrigen Gassen und Straßen vor der Tür, mit ihren zahlreichen Löchern, Müllbergen und Gatschpfütze.

Highway to hell


Zurück geht es über den neuen Highway. Und der ist im Vergleich zu allen anderen Straßen im Land wirklich eine Wohltat. Ihn haben aber auch Millionen Flutopfer 2010 benutzt, um nach Karachi zu kommen, zu Fuß und nicht mit dem Auto. Claudia Villani erzählt mir schreckliche Geschichten. Alle waren mit der Situation damals überfordert. Überall schwache und sterbende Menschen. Millionen Flüchtlinge seit Tagen ohne Nahrung und sauberes Wasser. Beim Verteilen der wenigen Hilfsgüter, anbetracht der Menschenmengen, kam es zu heftigen Tumulten. Claudia entdeckte ein fast verdurstetes kleines Kind, zu schwach um noch zu Schlucken. Die einzige Chance auf Rettung, eine Infusion im nahen öffentlichen Spital. Ein Kampf um Minuten beginnt. Doch im staatlichen Spital muss man die Medikamente zuvor an der Apotheke selber kaufen. Das Organisieren von ausreichend Geld und das Anstellen in der Schlage vor der Apotheke waren dann genau die Minuten zu viel. Das Mädchen starb. Situationen, die man sein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf bekommt.

Geächtet am Fluss


Durch Karachi zieht sich der Lyari River. Sein einstmals breites Flussbett wurde in mittlerweile rissige, teilweise eingefallene Betonwände gezwängt, darüber auf Stelzen ein Expressway für Autos gebaut. Das Wasser des Flusses gleicht ist braune Dreckbrühe, die sich stinkend durch die Stadt zieht. Viele Millionen Menschen entsorgen ihren Abfall direkt in den Fluss. Aber auch viele Tausend Menschen leben direkt am Fluss, kochen mit dem Wasser vom Fluss und waschen hier ihre Wäsche. Daneben „weiden“ Kühe auf den vom Wasser langsam verschobenen Müllbergen. Viele Jahre lang gab es hier eine Hindu-Siedlung. Jährlich wurden ihre Karton- und Blechhütten vom Hochwasser weggeschwämmt.  Ruth Pfau und ihr Team kauften schließlich ein Stück Land in Kamissagoth und mit Hilfe von Geldern der Caritas in St. Pölten, konnten dort kleine Häuser gebaut werden.
DIe Situation hat sich gewandelt. Viele
Slumbewohner haben nun eigene kleine Häuser

Projektkoordinatorin dort ist Aqsa Enwea, eine kluge tatkräftige Frau mit viel Mut. Sie erzählt mir von der Überzeugungsarbeit, die sie leisten musste, um die Situation zu ändern. Oftmals hat sie sich mit den Familien getroffen, musste diskutieren, wurde bedroht und beschimpft, gab aber nie auf. Heute führt sie mich stolz durch Kamissagoth. In der Mitte der kleinen Siedlung steht nun eine mehrstöckige Schule. Die kleinen Häuser sind gepflegt, die Höfe und Gassen der ehemaligen Slumfamilien gefegt. Müll findet man hier kaum mehr. Viele ehemalige Flussfamilien haben hier ein neues Leben begonnen und viele sogar Arbeit gefunden. MALC hat hier ein sehr umfassendes Programm gestartet. Medizinische Betreuung, Zugang zu Bildung, Verbesserung der Wohnsituation, Kurse in Hygiene, Familienplanung für die Erwachsenen. 

Aus den geächteten Hindus am Fluss, die Ärmsten von den Armen, wurde eine achtbare Gemeinde, die mir voll Selbstbewusstsein ihre Häuser zeigt. Und Aqsa Enwea, selbst Katholikin, bemüht sich sehr um religiösen Dialog. Mittlerweile gibt es in der Schule auch Muslime und Christen. Die medizinische Anlaufstelle in Kamissagoth und das Nahrungsprogramm wird ebenfalls von allen Religionen gemeinsam genützt. In der Früh beten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ebenfalls verschiedenen Religionen und Konfessionen angehören gemeinsam. Aus jeder Religion wird ein heiliger Text vorgelesen. Dann geht es an die Arbeit für die Menschen in Kamissagoth.


Erster Teil: Bei Ruth Pfau in Pakistan

Zweiter Teil: Pünktlichkeit und deutscher Humor in Pakistan
Dritter Teil: Erfolgsgeschichte: Slumbewohner werden Bürger von Kamissagoth

Mittwoch, 26. Februar 2014

Pünktlichkeit und deutscher Humor in Pakistan

Ruth Pfau
Ruth Pfau, 84 Jahre, in Leibzig geboren.
Sie lebt seit 50 Jahren in Pakistan.
Ruth Pfau ist Deutsche. Und das merkt man vor allem an ihrem Hang zur Pünktlichkeit. Für 6.30 Uhr in der Früh ist die Abfahrt nach Hayderabat vereinbart. Ruth Pfau sitzt bereits um 6.20 Uhr im Wagen und spätestens um 6.25 Uhr wird sie ungeduldig und fragt, warum die anderen zu spät kommen. Ihre pakistanischen Mitarbeiter können unzählige Geschichten dazu erzählen. Auch von ihrem unermüdlichen Fleiß. Ihr Arbeitseifer ist immer noch ein bisschen gefürchtet. Ihr Lieblingsmonat sei der Ramadan, so Mervyn Lobo, der jetzige CEO von Ruth Pfaus Hilfswerk, denn da müsse man keine Mittagspause machen und könne durcharbeiten, zitiert er sein großes Vorbild mit einem leichten Grinsen im Gesicht. Und nachdem das Team einmal 14 Stunden ohne Pause durchgearbeitet hatte und ein Kollege am nächsten Tag nur fünf Minuten nach sieben Uhr in der Früh zu spät erschien, pflegte Ruth Pfau bereits einen „guten Abend“ zu wünschen. Ob ernst oder witzig gemeint weiß man nie genau. Deutscher Humor ist weder für Pakistanis noch für Österreicher immer klar von Rüge und Vorwurf zu trennen. Aber der Fleiß von Pfau und ihrem Team hat sich ausgezahlt. Nach 50 Jahren Einsatz ist die Lepra in Pakistan unter Kontrolle.

Abfahrt nach Thatta um 6.30 Uhr in der Früh

Ein Jeep wie eine Sardinendose


Ruth Pfau sitzt vorne im Jeep. Mithilfe eines Schemels schafft sie den Einstieg über die Hohe Bodenkante. Es rührt mich, als ich später erfahre, dass sich die 84 jährige Frau ernsthaft überlegt hat mir, ihrem Gast, den Platz vorne zur Verfügung zu stellen. Zu den hinteren Plätzen kommt man nur mit einem komplizierten Schlichtungssystem. Einstieg durch die Heckklappe, überwinden mehrerer Kisten, zusammenklappen der Füße und schließlich Einschlichten in der zweiten Reihe. Ich frage mich ernsthaft, wie sich die Konstrukteure von Jeeps das Besteigen ohne Hintertüren gedacht haben. Aber über die Funktionalität von so manchem, sollte man sich vielleicht lieber keine Gedanken machen.

Es dauert also ein wenig, bis wir alle geschlichtet sind und der Jeep vollbesetzt mit acht Personen losfährt.
Die letzten Kilometer zum Ziel geht es über Sandpisten
Am Stadtrand von Karachi geht gerade die Sonne auf und im Morgenlicht können die staubigen Gassen, die qualmenden Misthaufen und unübersehbaren Müllhalden durchaus betören. Doch Romantik und Verklärung ist nichts für Ruth Pfau und so lasse ich es auch lieber bleiben. Mit dem ersten Licht füllen sich die Straßen innerhalb weniger Minuten. Im Finstern waren wir noch fast alleine unterwegs, jetzt stauen sich bereits bunt bemalte LKWs, Motorräder, ein paar PKWs und dazwischen Eselskarren.

Leprasymptome aber keine Diagnose


Unser Ziel ist ein Großfamilie im Gebiet von Thatta. Die letzten Kilometer geht es über staubige Feldwege. Hierher wurde Ruth Pfau vor sechs Wochen zu vermeintlichen Leprafällen gerufen. Fünf Burschen und drei Mädchen der Familie, im Alter von 23 bis 4 Jahren, hatten Symptome von Lepra an Händen, Füßen und Gesicht. Zur besseren Diagnose wurden die Kinder und die jungen Erwachsenen ins MALC-Spital nach Karachi gebracht. Hände und Füße der Patient sind schon fast vollständig verstümmelt. Die Nase lepratypisch deformiert. Nach eingehenden Untersuchungen weiß man aber jetzt, dass es ziemlich Sicher nicht Lepra ist. Aber was ist es dann? Dem will Ruth Pfau und ihr Team nun genauer nachgehen und einige Familienmitglieder befragen.

Ruth Pfau untersucht ein Kind
Ruth Pfau untersucht ein krankes Kind in Thatta
Die einfache Hütte der Familie wirkt gepflegt. Der Boden ist sauber gekehrt, ein gut bestellter Acker befindet sich gleich daneben. Und es gibt Hühner und Ochsen. Im vergleich zu den Slums der Großstadt wirkt das hier fast wie Idylle auf mich. Doch der Schein trügt. Als Ruth Pfau vor sechs Wochen das erste Mal hier war, waren alle dramatisch unterernährt. Der kleine Acker kann die große Familie nicht ernähren. Immer mehr Kinder, Jugendliche, Erwachsene kommen herbei und umringen Ruth Pfau. Das Land gehört der Familie nicht, erfahren wir. Als Mieter müssen sie die Hälfte des Ertrages vom Acker abgeben. Das heißt, etwa ab der Mitte des Jahres hat die Familie nichts mehr zu essen. Zumindest in den letzten sechs Wochen wurden sie vom MALC mit Lebensmitteln unterstützt.


Ruth Pfau beginnt mit ihrem Team eine Anamnese. Fast zwei Stunden werden die Familienmitglieder befragt. Kein leichtes Unterfangen, denn in Pakistan spricht man über 40 verschiedene Sprachen. So wird meist drei- bis viermal „um die Ecke“ übersetzt. Stellt man dann die Kontrollfragen, klingt vieles wieder gegensätzlich zur vorherigen Antwort. Vermutungen, dass giftiges Wasser oder Unterernährung für die der Lepra ähnlichen Symptome verantwortliche sein könnten, erhärten sich nicht. Das Team ist ratlos und man beschließt vorerst die acht Patienten nach der Erstversorgung wieder zurück zur Familie aufs Land zu schicken. Ruth Pfau besteht aber auf eine nachhaltige Lösung: Zumindest das Problem der dramatische Unterernährung der Familie muss gelöst werden. Zwei von den gesunden Söhnen arbeiten als Fahrer von Motorrikschas, kleinen Motorradtaxis. Doch nach Abzug des Mietpreises von 500 Rupee, bleibt auch davon nicht viel der Familie. Es wird also beschlossen zwei Motorrikschas zur Verfügung zu stellen. Ziel ist es, dass somit die Familie langfristig selbst für die acht behinderten Kinder wird sorgen können.

Gewaltige Schotterstreifen


Das gewaltige Schotterbett des Indus
Weiterfahrt nach Hayderabat. Die Landschaft ist beeindruckend. Weite Ebenen und darin breite Flussbette, die ihre Schotterstreifen durch die Landschaft ziehen. Zur Zeit führt der Indus, der Hauptfluss hier, nur wenig Wasser, aber man kann sich vorstellen, mit welcher gewaltiger Macht die Wassermassen die Landschaft beständig verändern und welche dramatischen Auswirkungen das Hochwasser im Juli 2010 auf die Menschen hatte. 

Über mehrere Monate ist das Wasser überall auf den Feldern gestanden und als es weg war, hat die Sonne innerhalb von kurzer Zeit den eigentlich fruchtbaren Schlamm so rasch getrocknet, dass ein Bestellen des Bodens unmöglich war. Wie betoniert waren die Felder. Mit Handarbeit und Ochsenpflug war da nicht viel auszurichten. Die wenigen Maschinen für die Feldarbeit, sind im Besitz der „Landlords“ und die lassen sich die Miete ordentlich bezahlen. Keine Chance also für die meist armen Bauernfamilien.


Rast nur für Männer


Viel ist nicht los auf der alten Straße zwischen Karachi und Hayderabat. Hin und wieder ein bunt bemalter LKW, der kunstvoll aufgeschlichtet, die Last für mindestens zwei weitere Fuhren aufeinmal trägt. Durch die schwere Ladung doppelt so breit und dreimal so hoch, begegnen uns diese fahrenden Eisenkisten im Schritttempo, so schwarz rauchend, dass man eigentlich meinen könnte, LKW und Ladung sind bereits im Vollbrand. Auf der Seite immer wieder Truck-Stopps. Auch wir machen dort Rast.

Doch Truckstopps sind eigentlich nur für Männer. Sie sitzen von der Sonne geschützt unter Planen, trinken Tee und werden bedient. Frauen bleiben entweder im Auto oder dürfen sich in einen stickigen Nebenraum ohne Fenster und Ventilator zurückziehen. Ruth Pfau wäre aber nicht Ruth Pfau, würde sie nicht eine Lösung finden. Kurzerhand wird ein Tisch aus dem Männerbereich in den Schatten von ein paar Bäumen neben die Raststätte gestellt. Perfekt!

Rund um die Städte Kotri und Hayderabat wird es wieder schmutziger. Nicht, dass es am Land nicht auch Unmengen an Plastik in der Landschaft verteilt gibt, doch in und rund um die Städte ist das Verhältnis Plastik und Landschaft eindeutig zu Gunsten des Plastiks.

In Hayderabat übernachten wir im Field-Office von MALC. Die Verantwortlichen erwarten uns schon und freuen sich über den Besuch von Ruth Pfau.

Königlicher Gast in alten Laken


Ich bekomme das beste Zimmer. Der Gast ist hier König. Die Fenster haben teilweise kein Glas und so kommt unablässig ganz feiner Staub ins Zimmer. Innerhalb weniger Stunden ist mein Equipment sichtlich davon überzogen, ganz zu schweigen von dem Bett. Überall fühlt man das feine Reiben und es knirscht zwischen den Zähnen. Dass Bettzeug wirkt schon mehrfach verwendet, das ist hier üblich und daran muss man sich erst gewöhnen. Bettzeugwechsel gibt es hier eigentlich nicht, denn es gibt ja nur eine Garnitur. Und nachdem ich gesehen habe, dass viele hier ihre Wäsche im Fluss waschen, und am Boden ausgelegt trocknen, bin ich mir gar nicht sicher was das kleinere Übel ist? Augen zu und durch. 


Erster Teil: Bei Ruth Pfau in Pakistan
Zweiter Teil: Pünktlichkeit und deutscher Humor in Pakistan
Dritter Teil: Erfolgsgeschichte: Slumbewohner werden Bürger von Kamissagoth

Dienstag, 25. Februar 2014

Bei Ruth Pfau in Pakistan


180 Million Menschen leben in Pakistan. Eine Zahl die schnell ausgesprochen ist. Doch eine Vorahnung was so viele Menschen bedeuten kommt mir erst, als die ersten Sonnenstrahlen Karachi unter mir ins zarte Rot tauchen. Ich bin auf dem Landeanflug und fast 20 Minuten lang ziehen hunderttausende Häuser und Hütten unter mir vorüber und mit der aufgehenden Sonne kommt zunehmend Leben in die Straßen.

Vom Flughafen geht es rasch ins Zentrum von Karachi, zumindest mit meinem Fahrer. Ich sitze in einem Kleinbus, der eigentlich außer für seine rechteckige Form das Wort Bus nicht verdient und irgendwie fühle ich mich sehr unmittelbar der Straße ausgesetzt. Nur wenige Millimeter Blech trennen mich von der Außenwelt und die kommt ständig gefährlich nahe. Trotz schlechter Bremsen schaffen wir es aber ohne nennenswerte Kontakte weiter. Was mir trotz Konzentration auf die Stoßstangen der anderen Fahrzeuge auffällt, viele bewaffneten Wachposten auf den Hausdächern und Wachtürmen neben der Straße zeigen, dass hier in den letzten Tagen nicht alles friedlich war. Immer wieder wurden Viertel gesperrt, weil es zu Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichsten Gruppen gekommen ist. Vor allem die verschiedenen Denkschulen im Islam sind durchaus im tödlichen Streit. Daneben gibt es aber auch Morde wegen Schutzgelderpressungen und Korruption.

Patient im MALC-Spital in Karachi
Erst vergangene Nacht gab es auch eine Schießerei rund um das Maria Adelaid Lebrocy Center, kurz MALC genannt. Das MALC in Karachi ist ein von Ruth Pfau gegründetes Spital zur Bekämpfung der Lepra und auch Namensgeber des Leprahilfswerkes. Ruth Pfau wohnt in dem an das Spital angeschlossene Verwaltungsgebäude. Die heute 84 jährige deutsche Ärztin und Ordensfrau und das von ihr gegründete Leprahilfswerk ist der eigentliche Anlass meiner Reise nach Pakistan.

Mein Fahrer lässt es sich nicht nehmen meinen Koffer die Treppen über das enge Stiegenhaus des MALC hinauf zu schleppen. Er tut mir leid, denn mit all dem Video-Equipment, das ich mit mir habe, ist das zulässige Fluggewicht von 30 kg voll ausgereizt und bei der Größe und Zartheit des Fahrers, muss der Koffer für in ungefähr doppelt so schwer wirken. Ich bin mir sicher, spätestens beim zweiten Stock bereut er seine zuvorkommende Höflichkeit und wünscht sich, dass er mich das „Monstrum“ hätte selber schleppen lassen.

Patient im MALC-Spital in Karachi
Vorbei geht es an vollen Krankenzimmern. Menschen mit verkrüppelten Gliedmaßen lächeln mich freundlich an. Zuhause hatte ich noch ein wenig darüber gescherzt, dass ich mein Quartier in einem Lepraspital aufschlage, doch gerade eben wird der Scherz Realität. Ich bin dann doch einigermaßen erleichtert, nicht gleich neben einem Krankenzimmer mein Lager aufschlagen zu müssen, sondern im Gästetrakt des Hospitals.

Ein paar Minuten später erfahre ich, dass Ruth Pfau mich erwartet. Alle nennen sie hier „Doctor“. Schnell wird mir klar, Etikette ist in Pakistan wichtig. Ich bin schon sehr neugierig. Viel habe ich von Ruth Pfau gehört, einiges in Büchern über sie gelesen. Mit 84 Jahren ist sie noch erstaunlich fit, nur das Stiegensteigen bereitet ihr größere Mühe. Wir reden nicht lange, sondern machen sofort eine Begrüßungsrunde beim Management, des von ihr gegründeten Hilfswerks. Allen voran werde ich Mervyn Lobo, dem Leiter der Organisation vorgestellt. Praktischer Weise ist die Verwaltung des gesamten MALC Hilfswerkes auch im Spital untergebracht und in wenigen Minuten lerne ich die verschiedensten "Departments" kennen. Ein bisschen erahne ich die Größe des MALC. Es ist Landesweit mit rund 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unterschiedlichsten Projekten aktiv und einer der ersten und größten NGOs in Pakistan.

Ruth Pfau besucht die Patienten im MALC
Ruth Pfau in ihrem kleinen Zimmer im MALC
Doch gleich nach der Theorie die Praxis: Ein Rundgang durch die Patientenzimmer im Spital in Karachi. Bei einer Leprapatientin haben sich Krebsgeschwüre an den Amputationen gebildet. Sie müsste dringend operiert werden. Diese Operation kann aber im MALC-Spital derzeit nicht durchgeführt werden. Ein englischer Arzt, der diese Operationen durchführen könnte, wurde bedroht und ausgeraubt. Er hat seinen Dienst quittiert und ist zurück nach Großbritannien geflogen. Seit einigen Tagen fehlt also ein Arzt, der das operieren könnte. Als Ruth Pfau das erfährt, erlebe ich sogleich etwas von ihrem Tatendrang und ihrer Entschlossenheit. Sofort ruft sie ein Consilium unter den Mitarbeitern ein. Es wird diskutiert und schließlich eine Operation in einem anderen Spital beschlossen. Jetzt geht es nur noch um die Kosten: Umgerechnet 180 Euro. Darum kümmert sich nun Claudia Villani. Die fast 60 jährige Wienerin reist seit zehn Jahren regelmäßig nach Pakistan und ist in den letzten Jahren eine enge Freundin von Ruth Pfau geworden. In Wien sammelt sie eifrig Spendengelder und kümmert sich dann um die direkte Verwendung vor Ort.

Pakistanis sind sehr zuvorkommend. Ständig wird mir Tee angeboten, ob ich eine Pause bräuchte, ob man mir beim Tragen des Equipments helfen könnte und ob ich etwas essen wolle. Ich bestehe auf keine „Extrawünsche“ und bekomme im pakistanischen Stil zubereitete Krankenhauskost, die wunderbar mundet! Für eine Woche darf ich nun am Tisch im kleinem Zimmer von Ruth Pfau platz nehmen und aus nächster Nähe ungeschminkt ihren Alltag miterleben.


Erster Teil: Bei Ruth Pfau in Pakistan
Zweiter Teil: Pünktlichkeit und deutscher Humor in Pakistan
Dritter Teil: Erfolgsgeschichte: Slumbewohner werden Bürger von Kamissagoth