In Äthiopien gehen die Uhren anders.
Der Tag beginnt um 6 Uhr in der Früh mit der ersten Stunde. Und
selbst wenn man dann pünktlich ist, ist man noch immer um 8 Jahre
falsch. Äthiopien schreibt zur Zeit das Jahr 2003.
Scan
Wie immer zittere ich etwas bei der
Einreise wegen meines Equipments. Meine TV-Kamera ist einfach zu
groß, um als Touristenkamera akzeptiert zu werden. Vor dem
bürokratischen Aufwand als Journalist einzureisen haben mich
Kollegen gewarnt. Also stehe ich vor der Zollkontrolle als Tourist
und zu allem Übel geht mein Rucksack aus unerklärlichen Gründen
nicht mehr ganz zu. Kabeln und Kamera sind gut sichtbar. Daneben habe
ich noch in der Fototasche einen doppelten Satz Mikrophone mit
Sendern und Empfängern, Stativ, Akkus und eine zweite kleine Kamera.
Ich beginne etwas zu schwitzen als ich sehe, dass bei der Einreise
alles nochmals genau gescannt wird. Ich stehe in einer langen
Schlange und warte auf dem „Moment der Wahrheit“. Plötzlich
fischt mich eine Äthiopische Zöllnerin aus der Reihe. „Nothing to
declare?“ Ich schüttle instinktiv den Kopf, werde an den Scannern
vorbeigeschoben und bin plötzlich ohne Scan eingereist. Manchmal
gibt es doch glückliche Fügungen.
Am Flughafen wartet Getachew Aberra,
der für Äthiopien verantwortliche „Licht für die Welt“
Mitarbeiter. Licht für die Welt ist eine Österreichische
Hilfsorganisation die sich dem Masterplan Vision 2020 verschrieben
hat. Weltweit soll bis zum Jahr 2020 kein Mensch mehr an einer
heilbaren Augenkrankheiten erblinden. Besonderen Focus legt Licht für
die Welt dabei auf Äthiopien. Mit dem Taxi geht es nach Addis Abeba.
Überall wird gebaut. Die Baugerüste machen die Handwerker zu
Akrobaten. Auf langen Stangen und wenigen Querbalken balancieren sie
viele Stockwerke über dem Boden die Fassaden entlang.
Eines der weltweit ärmsten Länder
macht auf den ersten Blick in der Hauptstadt einen für mich
erstaunlichen Eindruck: Betriebsamkeit wo man hinschaut. Kaum Schmutz
auf den Straßen und überall entsteht Neues.
Kontakt mit Esel
Beim Einsteigen in den alten Landrover
fühle ich mich nicht gerade wohl. Hinten, quer zur Fahrtrichtung,
wirft es einen bei jeder Lenkbewegung von links nach rechts. Und dann
kleben wir alle auch schon an der Rückseite des Fahrersitzes. Zum
Glück für uns funktionieren die Bremsen dieses alten Gefährts
nicht mehr einwandfrei, sonst wären wir durch die Windschutzscheibe
geflogen. Pech jedoch für einen Esel der sich uns als Hindernis
mitten auf die Straße gestellt hat.
Wir, das sind eine Gruppe von
Journalisten aus Österreich und ein paar Mitarbeiter von „Licht
für die Welt“. Unterwegs sind wir von Addis Abeba nach Nekemte.
330 Kilometer Autofahrt, in Österreich ein Vergnügen auf der
Autobahn, hier ist das ein Tagesprojekt. Auf der Straße sind
tausende Menschen unterwegs, jedoch nicht mit Autos, sondern zu Fuß.
Dazwischen Kühe, Ziegen, Pferde und Eseln. Einer von den Eseln hat
nun nach der Begegnung mit unserem Landrover ein paar blaue Flecken.
Schlamm
Solange die Straße asphaltiert ist,
geht es dennoch rasch vorwärts. Für die ersten 150 Kilometer
benötigen wir drei Stunden, vorbei an unzähligen Gewächshäusern,
in denen Schnittblumen für Europa gezogen werden. Dann aber wird es
mühsam. Chinesische Firmen haben hier viel Land gekauft und bauen
die alte Straße zweispurig aus. Offensichtlich haben die Planer
dieser Bauarbeiten nicht mit Regenwetter gerechnet, denn seit gestern
verwandelt sich diese 150 Kilometer lange Baustelle in einen große
Schlammfläche. Und es beginnt erneut heftig zu regnen. Unser Fahrer
macht sich Sorgen. Das Auto schwimmt mehr auf der Straße als dass es
fährt. Nach einigen Kilometern driften, rumpeln und vielen blauen
Flecken, stoppen wir in einem kleinen Dorf vor einer temporären
Augenambulanz.
Augenuntersuchung
Die Sonne geht schon fast unter und
noch immer warten hunderte Menschen auf eine Untersuchung. Für viele
wird der oft weite Fußweg hier her zur Augenambulanz wohl umsonst
gewesen sein. In einem kleinen Zimmer operiert eine Ärztin gerade
eine ältere Patientin, daneben werden andere Personen untersucht,
Schreibarbeiten erledigt. Für europäische Maßstäbe sind die
hygienischen Bedingungen hier unvorstellbar. Tapfer liegt die alte
Frau auf dem „Operationstisch“ und befolgt genau die Anweisungen
der Ärztin. Durch immer wiederkehrende Entzündungen sind bei ihr
Vernarbungen der Bindehaut entstanden. Dadurch beginnt sich das
Augenlied einzuklappen und die Wimpern scheuern auf der Hornhaut. In
einem schmerzhaften und langwierigen Prozess werden die Menschen
dabei langsam blind. Bei der Operation wird ein Teil des Augenlieds
entfernt, sodass die Wimpern nicht mehr auf der Hornhaut schaben
können. Medikamente helfen gegen die Infektion. Nach zwanzig Minuten
ist die Operation beendet. Rasch ist das Auge verbunden und schon
nimmt die nächste Patientin Platz auf der Liege. Zwischen all den
wartenden Patienten entdecke ich Pastor Kes Asfaw Terfassa von der
Ethiopian Evangelical Church Mekane Yesus. Er organisiert diese
temporären Augenambulanzen hier, fährt nahezu täglich mit seinem
Team in die Dörfer um Menschen zu untersuchen.
Er bittet uns einige Patienten nach
Nekemte mitzunehmen. Grauestar-Operation zum Beispiel können nicht
in den Ambulanzen durchgeführt werden. Dazu müssen die Patienten in
die Augenklinik in Nekemte gebracht werden. Eigentlich hatte ich
bereits das Gefühl, dass unser Landrover mit sechs Personen voll
besetzt ist. Als wir selbst nach längerem Schlichten nicht alle
weiteren Fahrgäste unterbringen können, wird ein zweites Auto
organisiert. Dennoch, der Platz bleibt eng. Alle sind mehr oder
weniger ineinander verkeilt, was zwar den Sauerstoffgehalt im Jeep
herabsetzt aber auch die Anzahl der blauen Flecken reduziert.
Dirty Road
Weil ich mit Pastor Kes Asfaw Terfassa
ein Interview machen möchte und er das zweite Auto fährt, sitze ich
nun auf seinem Beifahrersitz. Ein tolles Privileg, denn die nächsten
sechs Stunden werden wirklich mühsam. 150 Kilometer auf einer mehr
als „dirty“ road! Der Regen wird immer stärker und tiefschwarze
Nacht umgibt uns. Plötzlich mitten auf der Straße große Steine.
Bei uns in Österreich ein Grund vor diesem Hindernis rechtzeitig zu
warnen, sind sie hier selbst Zeichen der Warnung. Vor uns rutschen
LKWs die Straße herunter. Der Schlamm wirkt wie spiegelglattes Eis.
Einmal im rutschen, kann so ein Tonnen schweres Gebilde nicht mehr
gestoppt werden. Kreuz und Quer sind die LKWs nun zum Stillstand
gekommen. Eine Durchfahrt auf der „Straße“ aber nicht mehr
möglich. Wir springen aus dem Auto in den knöcheltiefen Morast.
Hier zu Übernachten scheint wenig attraktiv. Mit Schaufeln beginnen
nun die LKW-Fahrer links den Hang zu bearbeiten und einen Graben
zuzuschütten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir über diesen
„Ersatz-Weg“ an den Hindernissen vorbeikommen können.
Eine Stunde später gibt Pastor
Terfassa Vollgas. Wir schlittern, graben uns mit den Rädern etwas
ein und driften dann doch heil an den LKWs vorbei. Unser mühsamer
Weg lässt mich verstehen, warum die Menschen aus ihren Dörfern kaum
zu den wenigen Kliniken in den Städten kommen können und der Pastor
dieses Hilfsprojekt ins Leben gerufen hat. Er beginnt mir zu
erzählen, dass Blindheit in Afrika nahezu ein Todesurteil ist. Die
Menschen können nicht mehr arbeiten, finden sich nicht mehr zurecht,
verarmen mit ihren Familien.
Ärztemangel
Für sein Projekt der sogenannten
Outrech Center, den temporären Ambulanzen, benötigt er dringend
einen neuen Augenarzt. Er kann nur wenig zahlen und die wenigen
Augenärzte in Äthiopien unterliegen oft der Versuchung mit privaten
Ordinationen wesentlich mehr Geld zu verdienen. Auch gehen viele nach
dem Studium ins Ausland. Am liebsten würde der Pastor sich einen
europäischen Arzt wünschen, der hier ein paar Monate freiwillige
ordiniert. „Warum keinen Äthiopischen Arzt“, frage ich. Wir
diskutieren über soziales Engagement und wie in der Gesellschaft ein
Bewusstsein füreinander entstehen kann. Unterm Strich ist es für
Terfassa die Versuchung wo anders wesentlich mehr Geld zu verdienen,
die viele vor einem sozialen Engagement abbringt.
Zwei Stunden später sind wir endlich
in Nekemte. Fast zehn Stunden durchschütteln liegen hinter uns. Im
Hotel ist bereits alles finster. Nach längerem Hupen öffnet uns
dann doch der Nachtwächter. Beim Aussteigen aus dem Auto bemerken
wir, dass aus dem weißen Pickup ein komplett brauner geworden ist
und zwar bis zum Dach, wo unser Koffer festgezurrt sind. Wir
schleppen unsere Sachen ins Zimmer und denken voll Sorge an das
Personal, das morgen unsere Schlammspuren wieder beseitigen muss.
Mehrere Zeiten
Kaputte Duschen, schiefe Fließen,
schmutzige Böden und auch nicht gewechseltes Bettzeug fallen dem
freundlichen und bemühten Hotelpersonal nicht auf. Hier in Äthiopien
scheinen die Menschen aus unterschiedlichen Jahrhunderten dicht
nebeneinander und miteinander zu leben. Moderne Stahlbetonbauten
neben Lehmhütten, Allrad-Autos neben Eselskarren, Lehmboden neben
Federkernmatratze. Während wir Europäer schwere Koffer und Taschen
in unsere Zimmer schleppen, benötigen die Patienten die mit uns im
Hotel übernachten nur ein kleines Sackerl für ihr Hab und Gut.
Nachdem Frühstück bemerke ich, dass
einer der Patienten komplett blind ist. Seit 16 Jahren hat ihm der
Graue-Star das Augenlicht geraubt. Er möchte nun endlich ein Familie
gründen, eine Frau heiraten, erzählt er mir und hofft auf eine
positiv verlaufende Operation. Ich halte ihn für einen alten Mann
und bin erstaunt, denn im Gespräch erfahre ich, dass er erst Mitte
30 ist. Begleitet wird er von einem sechzehnjähriger Bursch aus dem
selben Dorf. Seine Diagnose ist ebenfalls Katerak, Grauer Star,
jedoch nur auf einem Auge. Mit dem anderen sieht er ganz gut. Seine
beruflichen Träume sind zu studieren, um Augenarzt zu werden.