Sonntag, 4. Juli 2021

Der zerbrochene Krug

Wegen eines zerbrochenen Krugs vor Gericht ziehen? Eine Geschichte, die auf dem ersten Blick aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Aber auch vor rund 200 Jahren, als Heinrich von Kleists Theaterstück erschien, war es ein Häufchen Scherben vermutlich nicht wert, vor einem Dorfrichter zu landen. Also muss es um mehr gehen. Bei den Sommerspielen in Perchtoldsdorf sucht Regisseurin Veronika Glatzner dieses Mehr in der Mehrdeutigkeit der Wörter und gesprochenen Sätze. Jede der Figuren in der Verhandlung erzählt ihre eigenen Wahrheit und verfolgt eigene Interessen. Wahrheit?


Es braucht eine Zeit, bis man in die Sprache von Kleist findet und das Suchen nach der Bedeutung von Wörtern, den Fluss der Handlung nicht mehr unterbricht. Wer hat heute noch Bilder zu „Pupillenakten“, „Hagestolz“ oder „Allotrien“ im Kopf parat? So ist es der Text von Kleist selbst, der einen zunächst an der Oberfläche hält aber dennoch mit Wortspielen, listigen Reimen bereits einiges zu bieten hat.


Die Inszenierung verweilt auch auf dieser ersten Textebene und gibt den Figuren Raum ihre Version der Wahrheit zu erzählen. Dabei sind alle sehr fantasiereich. Man könnte auch sagen, sie verdrehen die Fakten oder lügen wie gedruckt. Birgit Stöger als Frau Marthe Rull oder etwa auch Kai Maertens als Dorfrichter Adam, nutzen diesen Raum vorzüglich.  Der Wunsch wird zur eigenen zusammengereimten Wirklichkeit. Es geht letztlich um den eigenen Vorteil und das Befriedigen von Bedürfnissen, egal welche Konsequenzen das Handeln für das Gegenüber hat. Und jeder der Beteiligten nimmt es nicht so genau und reimt sich eine eigene Version aus den unterschiedlichsten Gründen zusammen. Jeder in diesem Spiel ist Opfer und Täter. Auch Eve, die ja durch Betrug, nämlich das Fälschen von Dokumenten, ihren Geliebten vor dem Militärdienst retten will. 


Die Anhörung vor dem Dorfgericht wird zur Farce. Parallelen zu heutigen Anhörungen tun sich auf. Sich die Haare raufen oder belustigt dem politischen Treiben zuschauen? Im Theater, wie auch bei den aktuellen Untersuchungsausschüssen ist das Publikum Zuschauer, dem am Ende aber das Lachen im Hals stecken bleibt. 


Denn schnell ist klar, den Krug hat der, als leicht tollpatschig dargestellte Dorfrichter Adam zerbrochen. Und listig führt er eine Verhandlung als Richter in einem Prozess, in dem er doch selbst der Täter ist und das wäre alles recht lustig, ginge es nur um diesen Krug aus Porzellan. Doch Eve, sehr beeindruckend dargestellt von Hannah Rang, offenbart im Nachspiel der Verhandlung, dass Dorfrichter Adam gerade dabei war sie zu vergewaltigen und erfährt sogleich eine zweite Demütigung durch Gerichtsrat Walter (Dominik Warta).


Der Krug steht also für mehr, etwa für die Bruchlinien zwischen den Figuren. Warum zieht die Mutter von Eva gegen ihren zukünftigen Schwiegersohn vor Gericht? Warum ist Ruprecht (Philipp Laabmay) der Liebhaber von Eva , dermaßen eifersüchtig und wähnt hinter verschlossener Tür ein Verhältnis von Eve mit einem anderen? Vertraut er nicht der Liebe von Eve? Auf diese Brüche zwischen den Figuren etwas genauer zu schauen, hätte der Inszenierung eine zusätzliche Dimension und Tiefe gegeben. 


Sind die, wie Sportplatzmarkierungen aufgezeichneten Linien auf der Drehbühne, eine Anspielung auf diese Bruchlinien? So manche Regie-Idee erschließt sich leider nicht beim Zuschauen. 


Die Drehbühne hingegen ist raffiniert und zeigt das Dargestellte stets aus neuen Blickwinkeln. Als Publikum, das rund um die „Manage“ Gerichtssaal sitzt, betrachtet man das Gesagte einmal aus der Perspektive des Betroffenen, dann wieder des Zuhörers oder Angesprochenen. Genial! 


Anders verhält es sich mit den Kostümen. Kreativität und Extravaganz kann man ihnen nicht absprechen: Aber was haben sie mit der Handlung zu tun? Die extrem hohen Stöckelschuhe der Mutter, das kurze Röckchen des Schreibers, der Transparentlook von Frau Brigitte, wirken allesamt wie ein zufälliger Griff in die gesammelten Abschlussarbeiten einer kreativen Modeschule. Die Kostüme lenken ab (ausgenommen ist der Ornat von Dorfrichter Adam), doch Ablenkung ist das, was der Text ganz und gar nicht braucht.


Obwohl das Ensemble gegen die Kostüme spielen muss, gelingt es ihm die Atmosphäre nach und nach zu verdichten und schließlich die Arena, vor allem nach der Pause, in seinen Bann zu ziehen.