Sonntag, 19. Oktober 2014

"Cupcakes": Vorsichtige Blicke unter die Zuckerglasur

"Israel, ten points …". Song Contest in Paris und gerade werden die Wertungspunkte vergeben. Hobbysänger Ofer (Ofer Shechter), der eine kleine Gesangsgruppe aus dem Freundeskreis zusammengestellt hat und für Israel an den Start gegangen ist, scheint ganz gut im Rennen zu sein. Vor den Fernsehschirmen und im Studio drücken Familie und Kollegen die Daumen. Diese Szenen sind der Höhepunkt des Films. Kurz zuvor hat Ofer mit Sakko und Ballettröckchen die Bühne betreten und keine Scheu gezeigt, seine Homosexualität auch vor einem Millionenpublikum offenzulegen.

Wirklichkeit und Fiktion


Was im Film Cupcakes als fiktionale Geschichte erzählt wird, kennt man in Österreich seit Conchita Wurst und dem Song Contest 2014 aus der Realität. Aber auch Israel hat seine wahre Geschichte dazu. 1998 ersang die Transsexuelle Dana International für Israel den Sieg beim  Eurovision Song Contest. Ihre Teilnahme sorgte damals für heftigen Widerstand in religiösen Kreisen und sollte verhindert werden. Auch Conchita Wurst wurde und wird wegen ihrer sexuellen Orientierung immer wieder angefeindet.
Ofer beim Finale des Song Contests
Foto: Jüdisches Filmfestival Wien

In Cupcakes ist das anders. Irgendwie klappt alles wie am Schnürchen. Alle finden Ofer sympathisch. In seinem Freundeskreis und Arbeitsumfeld scheint Homosexualität vollkommen akzeptiert zu sein. Auch die Bewerbung zur Teilnahme am Song Contest geht fast von alleine. Ofer und ein paar Freundinnen aus der Nachbarschaften singen spontan ein Lied und filmen es mit der Handykamera. Das Video landet bei einer Jury und die findet es so berührend, dass die Gesangstruppe als Vertreter von Israel für den nächsten Song Contest auserwählt wird. Und weil eine der Sängerinnen Bäckerin ist und mit Vorliebe mit Zuckerfarben bunt glasierte Muffins herstellt, nennt sich die Gruppe Cupcakes. Friede, Freude, Zuckerlfarbe.

Schwere Themen und leichte Musik


Cupcakes ist ein Musikfilm in guter israelischer Tradition, mit Musiknummern von “Yes Sir, I Can Boogie” über “You Light up my Life” bis zu “Hallelujah”. Songs, die man kennt und bei denen man gerne mitswingt. Doch bei den Themen und Geschichten, die hinter den Figuren im Film stehen, greift Regisseur Eytan Fox ins Volle.

So steht die Ehe von Anat (Anat Waxman), vor dem Aus.  Dana (Dana Ivgy) hat Angst ihren Vater zu enttäuschen und hat einen Job, der sie alles andere als glücklich macht. Keren (Keren Berger) wiederum flüchtet sich in eine virtuelle Computerwelt. Jede der Figuren trägt einen schweren "Rucksack" mit sich herum. Eigentlich viel mehr Stoff, als in einen Film passt und so kratzen Regisseur und Drehbuchautor Fox und sein Co-Autor Eli Bijaoui bei ihren Figuren nur an der Oberfläche. Vielleicht auch deshalb, weil sie weitere Nachforschungen ihrem Publikum überantworten möchten.

Ofer, der als Kindergärtner arbeitet, hat seinen ersten Auftritt im Film als Karaokesänger. Perfekt geschminkt und gestylt tritt er als Frau verkleidet vor sein kleines Publikum. Alle lachen und applaudieren, die Eltern der Kleinen freuen sich, grüßen freundlich, eine heile und tolerante Welt, in der jeder größtmögliche Freiheiten genießt. Man merkt, es hat Gründe, warum Tel Aviv 2011 von der australischen Tageszeitung Calgary Herald zur “schwulenfreundlichsten Stadt” gewählt wurde.

Israel war 2001 zudem das erste Land in Asien, das Homosexuelle durch ein Antidiskriminierungsgesetz geschützt hat. Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare ist möglich und Schwule und Lesben können ihre Partnerschaft eingetragen lassen. Doch nicht immer ist hinter einer bunten Zuckerglasur auch wohlschmeckender Kuchen.

Der Schein von Offenheit


Alle Personen im Film erscheinen zwar auf den ersten Blick offen und tolerant, doch wenn man ein bisschen an der Oberfläche kratzt, kommt durchaus unerwartet Bitteres zum Vorschein. Selbstverständlich akzeptieren die Eltern von Ofers Freund die homosexuelle Beziehung ihres Sohnes, "aber doch bitte aus Rücksicht auf das Geschäft nicht in der Öffentlichkeit".

Der freundliche Organisator für die Vorausscheidung der israelischen Song-Contest-Kandidaten findet die "authentische Performance" der kleinen Musikergruppe um Ofer zwar toll, aber da und dort müsse man noch etwas verändern. Er organisiert Kostüme, arrangiert den Song neu, greift so lange ein, bis nur noch wenig vom ursprünglichen Charme der Nummer überbleibt. Schließlich erkennen sich die Künstler und ihr Lied nicht mehr wieder. Im Film kommt Toleranz mehrfach als Maske daher, hinter der Menschen, gut versteckt, anderen ihre Vorstellungen überstülpen wollen.

Glaube und Toleranz


Interessant ist auch eine Szene, in der die musikalische Truppe kurz vor dem entscheidenden Auftritt beim Song Contest in Paris auf den Lift warten muss. Dana greift in ihre Tasche, zieht ein dickes Gebetbuch hervor und beginnt zu lesen. Die Gruppe ist sichtlich irritiert, stimmt aber schließlich ein: "O Gott, führe uns, dass wir in Frieden wandeln. Leite uns, dass wir unser Bestimmung erlangen ...".

Alle machen zwar mit, sprechen das abschließende "Amen" aber mit mehr oder weniger Enthusiasmus. Wo beginnt und endet religiöse Toleranz, wie weit verbiegen wir uns für die Überzeugung anderer? Wie sehr lassen wir uns fremdbestimmen? Und gibt es so etwas wie letzte Wahrheiten, die als Trumpf alles andere ausstechen? Viele Fragen können bei dieser Szene zu schwingen beginnen.

Doch nur ein paar Sekunden gibt uns Fox in seiner Regiearbeit Zeit, darüber nachzudenken. Denn kaum fängt der Film ein wenig zu "kratzen" an und wagt einen vorsichtigen Blick unter die bunte Oberfläche, wird sogleich mit Musik und süßer Optik jegliche leicht gezogene Furche wieder zugespachtelt.

Man kann Cupcakes ohne Probleme als Feel-Good-Film genießen und man muss sich keine Gedanken über Toleranz und Akzeptanz gegenüber anderen Meinungen und Lebensstilen machen. Man kann aber auch die bunte Zuckerglasur über den kleinen Törtchen entfernen und schauen was darunter liegt. Vielleicht ist es ja gar nicht so bitter wie befürchtet?

Mittwoch, 15. Oktober 2014

Wenn Männer Frauen besitzen - Scheidung in Israel

Die Kamera ist starr und unbeweglich und genauso festgefahren ist die Situation, in der sich Viviane Amsalem (Ronit Elkabetz) befindet. Der Film "Gett - Der Prozess der Viviane Amsalem" nimmt nicht nur die Protagonisten, sondern auch die Zuseher im engen Raum eines israelischen Rabbinatsgerichts gefangen. Zwei Stunden lang - im Film sind es fünf Jahre - wird das Publikum Zeuge eines Streits um den Gett, den sogenannten jüdischen Scheidebrief, den Viviane von ihrem Ehemann Elisha (Simon Abkarian) vor Gericht erbittet. Einfordern kann sie ihn nicht, denn nur Männer können nach israelischem Recht die Scheidung beantragen.

Viviane Amsalem erbittet den Scheidungsbrief 
von ihrem Mann Elisha
Foto: Jüdisches Filmfestival Wien

Die Praxis des Gett geht auf das 5. Buch Moses der Thora zurück. Dort wird im Kapitel 24 die Praxis des Scheidebriefes bereits vorausgesetzt: “Wenn ein Mann eine Frau geheiratet hat und ihr Ehemann geworden ist, sie ihm dann aber nicht gefällt, weil er an ihr etwas Anstößiges entdeckt, wenn er ihr dann eine Scheidungsurkunde ausstellt, sie ihr übergibt und sie aus seinem Haus fortschickt, wenn sie sein Haus dann verlässt, hingeht und die Frau eines anderen Mannes wird, wenn auch der andere Mann sie nicht mehr liebt, ihr eine Scheidungsurkunde ausstellt [...], dann darf sie ihr erster Mann, der sie fortgeschickt hat, nicht wieder heiraten." Es ist der Mann, der hier in den jahrtausendealten Texten alleine über die Frau bestimmen kann.

Doch auch heute, nach jüdischer Zeitrechnung ist das das Jahr 5775, kann eine jüdische Frau in Scheidungsangelegenheiten nicht viel gegen den Willen eines Mannes ausrichten. Und genau dort fokussiert der Film: "Niemals" werde er in die Scheidung einwilligen, sagt Elisha vor dem Rabbinatsgericht. Ihre Ehe sei gottgewollt und daher ihr beider Schicksal, komme was wolle. Gleich zu Beginn zementiert er so seinen Standpunkt. Doch ohne Scheidungspapiere ist Viviane nicht frei. In Israel fallen Vermählung und Scheidung noch immer in die alleinige Zuständigkeit der Religonsgemeinschaften.  Und so muss das Film-Ehepaar Amsalem vor das Rabbinatgericht. Dort sitzen drei Männer am hohen Podest und urteilen, ausgestattet mit göttlicher Autorität.

Reale Fiktion


Was jetzt beginnt, ist zwar im Film eine fiktive Handlung, hat aber viele Vorlagen aus dem realen Leben von Paaren in Israel. Man wird Zeuge eines Prozesses, der außerhalb des Heilsystems, in dem sich die handelnden Personen befinden, nur als absurd beschrieben werden kann. Es wird eine  Logik bedient, die man nur innerhalb der orthodoxen jüdischen Kultur und Frömmigkeit begreifen kann.

Was sich zunächst als besonders fromme Gesetzestreue von Elisha tarnt, entpuppt sich schnell als krankhaftes Besitzen-Wollen um jeden Preis. Bei "Gett" ziehen sich die Verhandlung über Jahre und dennoch wird es einem als Zuseher nicht langweilig. Gebannt, entsetzt und kopfschüttelnd verfolgt man die Statements von Familienangehörigen, lauscht den Plädoyers der Anwälte.

Es geht um die Macht von Männern über Frauen, Macht die keine Argumente braucht, die sich willkürlich auf Gesetze bezieht und sich letztlich auf Gott beruft, wenn keine Logik mehr hilft. Viviane, eine starke selbstbewusste Frau, ist nicht nur ihrem Ehemann nahezu hilflos ausgeliefert, sondern auch den drei Rabbiner-Richtern. Das Unrecht ist offensichtlich, aber es scheint hier eher um Ordnung, Recht und Machterhalt als um Gerechtigkeit zu gehen.

Willkür der Männer über Frauen


Die Scheidung, die Viviane so vehement einfordert, war vor 1.000 Jahren meist ein Problem in die umgekehrte Richtung. Allzu leicht konnten sich Männer ihrer ungeliebt gewordenen Frauen mit einem willkürlich ausgestellten Scheidungsbrief entledigen. Dieser Praxis hat Rabbenu Gerschom ben Jehuda (965 - 1028) schließlich ein Riegel vorgeschoben. Seither darf sich ein Ehemann nicht ohne Zustimmung seiner Ehefrau von ihr scheiden lassen. Die jüdischen Gemeinden Europas haben diesen Beschluss Gerschom ben Jehudas anerkannt. Doch auch hinter dieser Regel stand kaum Mitgefühl mit den Frauen, als vielmehr die Sorge um das Ansehen und der Ruf der Juden unter den Andersgläubigen.

Aber warum ist es so schwer für das Rabbinergericht dem Begehren der Viviane nachzugeben und die Scheidung zu verfügen? Einerseits gilt die Familie als hohes gut und verdient größtmöglichen Schutz. Daher verfügen die Richter in der Hoffnung auf ein "Zusammenstreiten" ein erneutes Zusammenleben des zerstritten Paares für einige Monate.

Geregelte Gründe für einen Scheidung


Andererseits sind die Gründe, bei denen ein jüdisches religiöses Gericht einen Ehemann zur Scheidung zwingen kann, genau geregelt. Zum Beispiel dann, wenn ein Mann sich weigert, mit seiner Frau Geschlechtsverkehr zu haben oder er seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Auch wenn ein Mann seiner Frau untreu ist, sie immer wieder schlägt oder unter einer abstoßenden Krankheit leidet.

Bei “Gett” werden all diese Punkte sorgfältig untersucht, Zeugen befragt. Doch nichts davon trifft zu. Elisha schlägt seine Frau nicht, sie haben vier Kinder und er ist weder krank noch verweigert er den Unterhalt. Viviane  will nicht länger in dieser Beziehung leben, weil Elisha sie nicht liebt, nie geliebt hat, die Ehe als Pflicht ansieht und psychischen Druck ausübt. Dieser Fall ist aber im Gesetz nicht geregelt.

“Gett” spielt in einem Mikrokosmos. Im  Gericht kennen sich alle. Man ist verwandt, verschwägert, besucht die gleiche Synagoge, stammt aus dem gleichen Dorf. Es gibt Abhängigkeiten, niemand hat einen freien unvoreingenommenen Blick auf das streitende Paar. Gerne vermeidet man auch ein genaueres Hinschauen auf den Nachbarn und verbirgt selbst die eignen Probleme so gut wie es eben geht.  Ein Problem, das es oft bei den Ortsrabbinaten zu geben scheint.

Gesetzliche Erleichterungen seit 2013


Im Mai 2013 wurde daher in Israel von Naftali Bennett, dem Minister für religiöse Dienste, bekannt gegeben, dass Eheschließungen und auch Scheidungen nicht mehr vor dem örtlich zuständigen orthodoxen Ortsrabbinat behandelt werden müssen, Paare sollen schon bald frei sein, unter allen Rabbinatsstellen auswählen zu können. Zu einer säkularen staatlichen Eheregelung, die auch gemischt religiöse Ehen anerkennen würde, konnte man sich nicht durchringen.

Nach fünf Jahren Ringen haben die Geschwister Ronit und Shlomi Elkabetz als Drehbuchautoren und Regisseure dieses fesselnden Kammerspiels endlich Erbarmen mit der Figur der Viviane.  Die Kamera wird beweglich. Viviane blickt endlich nicht nur gegen die schäbigen Wände des Gerichtssaals sondern durch eine Scheibe hinaus in die Natur. Sie beginnt zu gehen und als Zuseher heftet man sich an ihre Fersen. Gemeinsam wird man mit Viviane in die "Freiheit" entlassen.

Freitag, 10. Oktober 2014

Yalom: Psychotherapie als Religionsersatz?

Zwei Minuten lang pflügt ein riesengroßer Ozeantanker über die Leinwand. Ein gewaltiges und symbolträchtiges Bild, mit dem Regisseurin Sabine Gisiger ihre Dokumentation über den Psychotherapeuten Irvin D. Yalom beginnt. Die Botschaft ist klar: Es geht hier um einen Großen seines Faches und seinen bedeutsamen Lebensweg. Yalom hat über Jahrzehnte weltweit die Szene der existentiellen Psychotherapie geprägt. Mit seinen Lehrbüchern hat er unter Kollegen hohes Ansehen erlangt, mit seinen Romanen, wie etwa "Und Nietzsche weinte" oder "Die Rote Couch", Millionen Leserinnen und Leser weltweit begeistert.

Irvin Yalom und sein Frau Marilyn
Foto: Jüdisches Filmfestival Wien
Der englische Titel des Filmes ist "Yalom's Cure" und kann mit "Yaloms Heilung" ins Deutsche übersetzt werden. Es geht um die Heilung der Wunden, die das menschliche Dasein aufreißt, bis hin zur Existenzbedrohung durch den Tod. Zur Sprache kommen Ängste, denen sich Patienten, aber auch Psychotherapeuten immer wieder stellen müssen und um deren "Heilung" gerungen wird. In einem großen Bogen, von der Jugend bis ins hohe Alter, begleitet die Dokumentation Yalom und lässt ihn ausgiebig zu Wort kommen. Das Produktionsteam hat private Filmausschnitte und Fotos aufgetrieben, die bis in die 1930er Jahre zurückreichen. 

In Österreich kommt der Film unter dem Titel "Yaloms Anleitung zum Glücklichsein" in die Kinos. Die Premiere ist am Jüdischen Filmfestival in Wien am 10. Oktober. Welche Kur gegen Angst und Verzweiflung hat der bekannte Therapeut gefunden, um mit der größten existentiellen Bedrohung, dem Tod, fertig zu werden? Wie sieht seine Anleitung zum Glücklichsein aus?

Ausbruch aus dem jüdischen “Ghetto”


Yalom wuchs in Washington DC als Sohn einer jüdisch-russischen Emigrantenfamilie auf. Seine Eltern haben ein Lebensmittelgeschäft betrieben. Das Verhältnis zu seiner Mutter sei nicht einfach gewesen, erzählt der heute 83-Jährige. Die Eltern waren stark in der jüdischen Einwandererszene verwurzelt.  Er selber hätte aber als Jugendlicher kein Interesse gehabt, zur jüdischen Clique aus Osteuropa und Russland zu gehören. Yalom zog die Bibliothek dem geselligen Beisammensein im "Ghetto" vor. 

Er habe große Pläne gehabt, wollte immer schon Mediziner werden. Doch in den 1950er Jahren gibt es an nordamerikanischen Universitäten für Juden eine Sperrklausel von fünf Prozent. Er habe Tag und Nacht studiert, um als Jude dennoch auf der medizinischen Fakultät zugelassen zu werden. Mit Erfolg. Und schon bald sollte Yalom selbst als Lehrender an Universitäten unterrichten. 

Immer mehr interessierte sich Yalom für das Wesentliche und begann mit krebskranken Menschen psychotherapeutisch zu arbeiten. Vor allem in den 1980er Jahren war es sein Ziel, die Sensibilität von Therapeuten für die existentielle Dinge zu erhöhen. Darunter versteht Yalom die Beschäftigung mit dem Tod, die Suche nach Sinn, Isolation und Freiheit. Man ahnt ein bisschen die Not der Filmemacherin, all diese abstrakten Begriffe in Bilder umzusetzen. So werden Strand, Wellen, Wiesen und noch mehr Aufnahmen von Strand, Wellen und Wiesen etwas unoriginell über bedeutsame Interviewpassagen gelegt. 

Religiöser Atheist?


Als Soundtrack wird jüdische Musik geboten, leise und im Hintergrund. Das, was was bei Yalom so gar keine Rolle mehr zu spielen scheint, seine jüdischen Wurzeln, ist zumindest als Musikzitat stets vorhanden. Yalom sucht in Interviews den Abstand zu Glaube und Religion. Er bezeichnet sich selbst als "praktizierenden Atheisten". In einem Gespräch mit  der jüdischen Tageszeitung Yediot Achronot formuliert er: "Wenn man an Gott glauben würde, was hätte das für Konsequenzen für die anderen irrationalen Dinge. Da lebe ich lieber in einer rationalen Welt." 

Umso mehr war Irvin Yalom im Jahr 2000 erstaunt, als er von der "American Psychiatric Association" den Oscar Pfister Preis für wichtige Beiträge zu Psychiatrie und Religion erhielt. "Religion und ich, das muss ein Irrtum sein", war Yalom damals überzeugt. Doch viele seiner Lesen meinen bis heute gerade in Yaloms Werken wichtige religiöse Fragestellungen zu finden und wollen die für sie spannende Auseinandersetzung mit den transzendenten Dingen nicht missen. 

Intime Momente


Über weite Strecken der Dokumentation bleibt Yalom der große Gelehrte, der Arzt und Therapeut, der wichtige Lebensweisheiten zu verkünden hat, der sich durchaus vor der Kamera in Denkerpose gefällt. Es wird spürbar, dass analytische Psychotherapie und Yaloms Bücher die Filmemacherin "auf ihrer Reise zu sich selbst" stark geprägt haben. Dieses ehrfurchtsvolle Lehrer-Schüler-Verhältnis tut dem Film nicht immer gut. Doch Gisiger versucht sich aus dieser braven Rolle zu befreien und zeigt das Ehepaar Yalom beim Baden in einem Zuber. Der so ganz aus dem übrigen Duktus der Doku herausfallende "Befreiungsschlag" der Regisseurin irritiert und misslingt.

Doch dann stellt uns Gisiger die vier mittlerweile erwachsenen Kinder des Ehepars Yalom vor und schafft plötzlich ganz nahe intime Momente. Es sind Szenen, die auch mit Scheitern zu tun haben, denn das Ehepaar Yalom ist ratlos, warum das Rezept ihrer eigenen, bereits 60 Jahre andauernden glücklichen Ehe nicht auf ihre Kinder übertragbar war. Alle vier haben ihre Ehepartner schon nach kurzer Zeit wieder verlassen. Hier kommt man im Film dem Menschen Yalom erstmals näher.

Schließlich geht es um das letzte Scheitern, die existenzbedrohende Endlichkeit des Menschen. Die Kamera nimmt den Zuseher mit zu einem Tauchgang des großen Meisters der Psychoanalyse. Yalom schnorchelt in Unterwasserlandschaften. Das Abtauchen in die existentiellen Nöte der Menschen, das Forschen nach der Wahrheit, das Konfrontieren mit Wünschen und Ideen haben Yalom ein Leben lang fasziniert und beschäftigt. 

Was ist seine Antwort auf die große Frage nach dem Danach? Irvin Yalom führt seine Zuseher behutsam an der Hand. Letzter Trost sei nicht die Leistung des menschlichen Geistes, sich ein Leben nach dem Tod paradiesisch vorzustellen. Religionen erzählen Märchen, so sein harter Befund. Aus Jahrzehnten Psychoanalyse habe er die Überzeugung gewonnen, dass der Tod seinen Schrecken nur im Führen eines sinnvollen Lebens verliert. Bei Yalom gewinnt die Psychoanalyse als Vademecum gegen die Religion.