Montag, 23. Mai 2011

Vertraut und neu - Spurensuche jüdischen Lebens in Wien


Ich bin unterwegs für das ORF TV-Magazin "Orientierung" auf den Spuren jüdischen Lebens in Wien. Ein Rundgang durch die Leopoldstadt als Hintergrundrecherche. Dazu eingeladen hat der Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit.

Eigentlich ist mir hier alles vertraut. Acht Jahre bin ich täglich mit dem Fahrrad durch den zweiten Bezirk in die Vereinsgasse zur Schule gefahren. Dreißig Jahre später fällt mir hier eine neues Selbstbewusstsein der jüdischen Bevölkerung auf. Es ist selbstverständlicher geworden sich als Jude zu zeigen. Männer eilen in dunklen Mänteln und mit Hüten geschäftig durch die Gassen. Viele Kinder sind gekleidet wie kleine Erwachsene und die Burschen am Spielplatz tragen fast alle eine Kippa.

Enteignet,vertrieben, ermordet.

Die Gassen und Plätze des zweiten Bezirks sind mit viel Leid der jüdischen Bevölkerung verbunden. Durch die Jahrhunderte begegnete man hier den Juden hauptsächlich feindlich. Enteignet,vertrieben, ermordet. 1624 wurde hier im Bezirk ein Ghetto gegründet, die Juden zusammengepfercht. An Stelle einer Synagoge wurde von Kaiser Leopold I. 1670 die Kirche in der Großen Pfarrgasse gebaut. Die Juden mussten alle Wien verlassen. Erst das Toleranzpatent 1782 von Josep II. schaffte Gleichberechtigung. Die Zahl der Juden im zweiten Bezirk wuchs wieder auf ein Drittel der Gesamtbevölkerung an. 1858 Einweihung des großen Tempels in der Tempelgasse. Nach dem ersten Weltkrieg war etwa 60.000 Menschen, die Hälfte der Bevölkerung in der Leopoldstadt jüdisch. 1938 brach dann der Antisemitismus wieder voll hervor. Warum tun Menschen soetwas einander an? Warum bestehen diese Konfliktmuster über Jahrtausende?

Wir gehen vorbei am jüdischen Theater in die Tempelgasse. Die Judenhasser haben ganze Arbeit geleistet. Nur noch vier mächtige rekonstruierte Säulen erinnern an den in der Reichskristallnacht im November 1938 zerstörten Tempel. Heute hat hier ESRA in einem Neubau Heimat gefunden. Das psychosoziale Zentrum ESRA wurde 1994 als Beratungs- und Behandlungszentrum gegründet und bietet den Überlebenden der NS-Verfolgung und deren Nachkommen Hilfe an. Auch werden jüdische MigrantInnen und deren Familien, in ihrem Integrationsprozess unterstützt.

Interesse am Dialog

Hinter einer unscheinbaren Tür in der Kleine Mohrengasse besuchen wir das „Sarah-Fogiel-Institut für Jüdische Studien“. Ruth Winkler, die Chefin hier, erklärt die Aufgabe des Instituts. Es geht um die Förderung der hebräischen Sprache und den Aufbau einer wissenschaftlichen Bibliothek mit Schwerpunkt Kultur und Geschichte der sefardischen Gemeinde Wiens. Unsere Gespräche kreisen um den jüdisch-nichtjüdischen Dialog. Frau Winkler erzählt, dass es vor allem die christlichen Pfarren sind, die sich für den Dialog interessieren und anfragen. Mehrmals im Monat werden daher Führungen und Vorträge organisiert.

Die "Stolpersteine" im Straßenpflaster weisen auf vergangenes jüdische Leben hin. „Koscherland“ und der „Koschershop“ sind zwei der zahlreichen Lebensmittelgeschäfte hier im Bezirk, die durch ihre Auslagengestaltung gut sichtbar Zeugnis vom gegenwärtigen jüdischen Leben ablegen. Auf unserem Rundgang erfahren wir von der jüdischen Autorin Alexa Weiss, dass rund 800 Familien in Wien traditionell koscher kochen. Mit Interesse verfolgt man innerhalb der jüdischen Gemeinde, dass viele Jüdinnen und Juden, nach einer Zeit der Entfremdung und Distanz von der eigenen Religion, wieder beginnen die Rituale und Gesetze einzuhalten. Oft scheinen gerade die Kinder sogar mehr in der jüdischen Tradition verwurzelt als ihre Eltern.

Hässliche Betonblöcke

Viele Einrichtungen hier im Bezirk sind nach außen hin aber kaum erkennbar. Manchmal zeugen Sicherheitsmaßnahmen wie Wachhäuschen mit Polizisten oder hässliche Betonblöcke auf der Straße davon, dass sich hinter der Hausfassade eine der 12 Synagogen oder eine Mikwa, ein rituelles Badehaus verbirgt. Einige dieser Synagogen sind nicht nur Orte des Gebetes, sonder Plätze, an denen man den ganzen Tag verbringt, Orte des Studiums, des Austausches aber auch der Freizeitgestaltung. Der Grund für die Betonblöcke ist übrigens der, dass niemand mit sprengstoffbeladenen Autos in die Häuser fahren kann. Ich glaube, dass eine künstlerische Gestaltung dieser Ungetümer ihrer Funktionalität keinen Abbruch leisten würde.

Auf unserem Spaziergang durch den Bezirk besuchen wir die Synagoge der "Bewegung für progressives Judentum Or Chadasch". Weltweit sind die progressiven Juden die größte Bewegung. In Wien sind sie jedoch nur eine „Minderheit der Minderheit“. Laut Selbstdefinition steht Or Chadasch für ein aufgeklärtes, tolerantes, zeitgemäßes und dennoch in weiten Bereichen traditionelles Judentum. Frauen haben hier die gleichen Rechte und Pflichten wie Männer. 

Gefilte Fisch

Gefilte Fisch, Oliven und koscherer Wein. Der Streifzug durch die Leopoldgasse macht hungrig. Bewirtet werden wir in der Tandelmarktgasse. Hier befinden sich die Räumlichkeiten des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Mehr als 50 Jahre schon bemüht sich der Verein um das gegenseitige Verständnis und den Abbau von Antisemitismus.

Willy Weisz und Markus Himmelbauer vom Koordinierungsausschuss diskutieren über das neue Selbstverständnis vieler jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger hier in Wien. Die jüdische Autorin Alexa Weiss bringt es dann für sich auf den Punkt: „In der dritten Generation nach der Shoah wollen viele vermehrt nach vorne blicken, nicht mehr nur über das erlittene Leid definiert werden. Aus einer aufblühenden Gegenwart heraus wollen wir Jüdinnen und Juden unsere Zukunft gestalten.“