Donnerstag, 17. März 2011

In Äthiopien gehen die Uhren anders

In Äthiopien gehen die Uhren anders. Der Tag beginnt um 6 Uhr in der Früh mit der ersten Stunde. Und selbst wenn man dann pünktlich ist, ist man noch immer um 8 Jahre falsch. Äthiopien schreibt zur Zeit das Jahr 2003.

Scan

Wie immer zittere ich etwas bei der Einreise wegen meines Equipments. Meine TV-Kamera ist einfach zu groß, um als Touristenkamera akzeptiert zu werden. Vor dem bürokratischen Aufwand als Journalist einzureisen haben mich Kollegen gewarnt. Also stehe ich vor der Zollkontrolle als Tourist und zu allem Übel geht mein Rucksack aus unerklärlichen Gründen nicht mehr ganz zu. Kabeln und Kamera sind gut sichtbar. Daneben habe ich noch in der Fototasche einen doppelten Satz Mikrophone mit Sendern und Empfängern, Stativ, Akkus und eine zweite kleine Kamera. Ich beginne etwas zu schwitzen als ich sehe, dass bei der Einreise alles nochmals genau gescannt wird. Ich stehe in einer langen Schlange und warte auf dem „Moment der Wahrheit“. Plötzlich fischt mich eine Äthiopische Zöllnerin aus der Reihe. „Nothing to declare?“ Ich schüttle instinktiv den Kopf, werde an den Scannern vorbeigeschoben und bin plötzlich ohne Scan eingereist. Manchmal gibt es doch glückliche Fügungen.

Am Flughafen wartet Getachew Aberra, der für Äthiopien verantwortliche „Licht für die Welt“ Mitarbeiter. Licht für die Welt ist eine Österreichische Hilfsorganisation die sich dem Masterplan Vision 2020 verschrieben hat. Weltweit soll bis zum Jahr 2020 kein Mensch mehr an einer heilbaren Augenkrankheiten erblinden. Besonderen Focus legt Licht für die Welt dabei auf Äthiopien. Mit dem Taxi geht es nach Addis Abeba. Überall wird gebaut. Die Baugerüste machen die Handwerker zu Akrobaten. Auf langen Stangen und wenigen Querbalken balancieren sie viele Stockwerke über dem Boden die Fassaden entlang.

Eines der weltweit ärmsten Länder macht auf den ersten Blick in der Hauptstadt einen für mich erstaunlichen Eindruck: Betriebsamkeit wo man hinschaut. Kaum Schmutz auf den Straßen und überall entsteht Neues.

Kontakt mit Esel

Beim Einsteigen in den alten Landrover fühle ich mich nicht gerade wohl. Hinten, quer zur Fahrtrichtung, wirft es einen bei jeder Lenkbewegung von links nach rechts. Und dann kleben wir alle auch schon an der Rückseite des Fahrersitzes. Zum Glück für uns funktionieren die Bremsen dieses alten Gefährts nicht mehr einwandfrei, sonst wären wir durch die Windschutzscheibe geflogen. Pech jedoch für einen Esel der sich uns als Hindernis mitten auf die Straße gestellt hat.

Wir, das sind eine Gruppe von Journalisten aus Österreich und ein paar Mitarbeiter von „Licht für die Welt“. Unterwegs sind wir von Addis Abeba nach Nekemte. 330 Kilometer Autofahrt, in Österreich ein Vergnügen auf der Autobahn, hier ist das ein Tagesprojekt. Auf der Straße sind tausende Menschen unterwegs, jedoch nicht mit Autos, sondern zu Fuß. Dazwischen Kühe, Ziegen, Pferde und Eseln. Einer von den Eseln hat nun nach der Begegnung mit unserem Landrover ein paar blaue Flecken.

Schlamm

Solange die Straße asphaltiert ist, geht es dennoch rasch vorwärts. Für die ersten 150 Kilometer benötigen wir drei Stunden, vorbei an unzähligen Gewächshäusern, in denen Schnittblumen für Europa gezogen werden. Dann aber wird es mühsam. Chinesische Firmen haben hier viel Land gekauft und bauen die alte Straße zweispurig aus. Offensichtlich haben die Planer dieser Bauarbeiten nicht mit Regenwetter gerechnet, denn seit gestern verwandelt sich diese 150 Kilometer lange Baustelle in einen große Schlammfläche. Und es beginnt erneut heftig zu regnen. Unser Fahrer macht sich Sorgen. Das Auto schwimmt mehr auf der Straße als dass es fährt. Nach einigen Kilometern driften, rumpeln und vielen blauen Flecken, stoppen wir in einem kleinen Dorf vor einer temporären Augenambulanz.

Augenuntersuchung

Die Sonne geht schon fast unter und noch immer warten hunderte Menschen auf eine Untersuchung. Für viele wird der oft weite Fußweg hier her zur Augenambulanz wohl umsonst gewesen sein. In einem kleinen Zimmer operiert eine Ärztin gerade eine ältere Patientin, daneben werden andere Personen untersucht, Schreibarbeiten erledigt. Für europäische Maßstäbe sind die hygienischen Bedingungen hier unvorstellbar. Tapfer liegt die alte Frau auf dem „Operationstisch“ und befolgt genau die Anweisungen der Ärztin. Durch immer wiederkehrende Entzündungen sind bei ihr Vernarbungen der Bindehaut entstanden. Dadurch beginnt sich das Augenlied einzuklappen und die Wimpern scheuern auf der Hornhaut. In einem schmerzhaften und langwierigen Prozess werden die Menschen dabei langsam blind. Bei der Operation wird ein Teil des Augenlieds entfernt, sodass die Wimpern nicht mehr auf der Hornhaut schaben können. Medikamente helfen gegen die Infektion. Nach zwanzig Minuten ist die Operation beendet. Rasch ist das Auge verbunden und schon nimmt die nächste Patientin Platz auf der Liege. Zwischen all den wartenden Patienten entdecke ich Pastor Kes Asfaw Terfassa von der Ethiopian Evangelical Church Mekane Yesus. Er organisiert diese temporären Augenambulanzen hier, fährt nahezu täglich mit seinem Team in die Dörfer um Menschen zu untersuchen.

Er bittet uns einige Patienten nach Nekemte mitzunehmen. Grauestar-Operation zum Beispiel können nicht in den Ambulanzen durchgeführt werden. Dazu müssen die Patienten in die Augenklinik in Nekemte gebracht werden. Eigentlich hatte ich bereits das Gefühl, dass unser Landrover mit sechs Personen voll besetzt ist. Als wir selbst nach längerem Schlichten nicht alle weiteren Fahrgäste unterbringen können, wird ein zweites Auto organisiert. Dennoch, der Platz bleibt eng. Alle sind mehr oder weniger ineinander verkeilt, was zwar den Sauerstoffgehalt im Jeep herabsetzt aber auch die Anzahl der blauen Flecken reduziert.

Dirty Road

Weil ich mit Pastor Kes Asfaw Terfassa ein Interview machen möchte und er das zweite Auto fährt, sitze ich nun auf seinem Beifahrersitz. Ein tolles Privileg, denn die nächsten sechs Stunden werden wirklich mühsam. 150 Kilometer auf einer mehr als „dirty“ road! Der Regen wird immer stärker und tiefschwarze Nacht umgibt uns. Plötzlich mitten auf der Straße große Steine. Bei uns in Österreich ein Grund vor diesem Hindernis rechtzeitig zu warnen, sind sie hier selbst Zeichen der Warnung. Vor uns rutschen LKWs die Straße herunter. Der Schlamm wirkt wie spiegelglattes Eis. Einmal im rutschen, kann so ein Tonnen schweres Gebilde nicht mehr gestoppt werden. Kreuz und Quer sind die LKWs nun zum Stillstand gekommen. Eine Durchfahrt auf der „Straße“ aber nicht mehr möglich. Wir springen aus dem Auto in den knöcheltiefen Morast. Hier zu Übernachten scheint wenig attraktiv. Mit Schaufeln beginnen nun die LKW-Fahrer links den Hang zu bearbeiten und einen Graben zuzuschütten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir über diesen „Ersatz-Weg“ an den Hindernissen vorbeikommen können.

Eine Stunde später gibt Pastor Terfassa Vollgas. Wir schlittern, graben uns mit den Rädern etwas ein und driften dann doch heil an den LKWs vorbei. Unser mühsamer Weg lässt mich verstehen, warum die Menschen aus ihren Dörfern kaum zu den wenigen Kliniken in den Städten kommen können und der Pastor dieses Hilfsprojekt ins Leben gerufen hat. Er beginnt mir zu erzählen, dass Blindheit in Afrika nahezu ein Todesurteil ist. Die Menschen können nicht mehr arbeiten, finden sich nicht mehr zurecht, verarmen mit ihren Familien.
Ärztemangel

Für sein Projekt der sogenannten Outrech Center, den temporären Ambulanzen, benötigt er dringend einen neuen Augenarzt. Er kann nur wenig zahlen und die wenigen Augenärzte in Äthiopien unterliegen oft der Versuchung mit privaten Ordinationen wesentlich mehr Geld zu verdienen. Auch gehen viele nach dem Studium ins Ausland. Am liebsten würde der Pastor sich einen europäischen Arzt wünschen, der hier ein paar Monate freiwillige ordiniert. „Warum keinen Äthiopischen Arzt“, frage ich. Wir diskutieren über soziales Engagement und wie in der Gesellschaft ein Bewusstsein füreinander entstehen kann. Unterm Strich ist es für Terfassa die Versuchung wo anders wesentlich mehr Geld zu verdienen, die viele vor einem sozialen Engagement abbringt.

Zwei Stunden später sind wir endlich in Nekemte. Fast zehn Stunden durchschütteln liegen hinter uns. Im Hotel ist bereits alles finster. Nach längerem Hupen öffnet uns dann doch der Nachtwächter. Beim Aussteigen aus dem Auto bemerken wir, dass aus dem weißen Pickup ein komplett brauner geworden ist und zwar bis zum Dach, wo unser Koffer festgezurrt sind. Wir schleppen unsere Sachen ins Zimmer und denken voll Sorge an das Personal, das morgen unsere Schlammspuren wieder beseitigen muss.

Mehrere Zeiten

Kaputte Duschen, schiefe Fließen, schmutzige Böden und auch nicht gewechseltes Bettzeug fallen dem freundlichen und bemühten Hotelpersonal nicht auf. Hier in Äthiopien scheinen die Menschen aus unterschiedlichen Jahrhunderten dicht nebeneinander und miteinander zu leben. Moderne Stahlbetonbauten neben Lehmhütten, Allrad-Autos neben Eselskarren, Lehmboden neben Federkernmatratze. Während wir Europäer schwere Koffer und Taschen in unsere Zimmer schleppen, benötigen die Patienten die mit uns im Hotel übernachten nur ein kleines Sackerl für ihr Hab und Gut.

Nachdem Frühstück bemerke ich, dass einer der Patienten komplett blind ist. Seit 16 Jahren hat ihm der Graue-Star das Augenlicht geraubt. Er möchte nun endlich ein Familie gründen, eine Frau heiraten, erzählt er mir und hofft auf eine positiv verlaufende Operation. Ich halte ihn für einen alten Mann und bin erstaunt, denn im Gespräch erfahre ich, dass er erst Mitte 30 ist. Begleitet wird er von einem sechzehnjähriger Bursch aus dem selben Dorf. Seine Diagnose ist ebenfalls Katerak, Grauer Star, jedoch nur auf einem Auge. Mit dem anderen sieht er ganz gut. Seine beruflichen Träume sind zu studieren, um Augenarzt zu werden.